Product Sculptures

von Barbara Straka
Eine wichtige Werkgruppe in Semjons künstlerischem Programm der Unity in Difference/Einheit in der Differenz stellen die Product Sculptures dar. Es sind mit gebleichtem Bienenwachs überarbeitete originale Produktverpackungen samt Inhalt. Es entsteht der merkwürdige Effekt, daß die Warenkörper zwar in ihrer Grundform erhalten sind, aber ihre Form und Außenhaut wie hinter einem milchigen Schleier verschwinden, ihr Gebrauchswert hinter einem ästhetischen Reiz zurücktritt: "Die Product Sculpture", so der Künstler in einem Pressetext, "beinhaltet als Grundprinzip das Spiel mit der Form und dem Bild. Letzteres wird durch die Herstellung von semitransparenten malerischen Strukturen erreicht. Das uns vertraute 'Bild' scheint malerisch verklärt durch, ist zur Malerei, zum Bild, zur malerischen Skulptur geworden."
Anschließend werden sie in eine Plexiglasbox mit blauem Drehsockel gestellt oder als Ensemble, als Combination Sculpture inszeniert.
Einen signifikanten Ausbau dieser Werkgruppe realisierte Semjon 1996 mit seinem Projekt Kiosk. Dieses temporäre Kunstwerk hat der Künstler für zwei Monate in einem denkmalgeschützen Kioskpavillon an einer belebten Straßenkreuzung in Berlin-Zehlendorf eingerichtet. In den Schaufensterfronten waren insgesamt 200 Originalprodukte des Kioskangebotes auf eigens dafür angefertigten Chrom- und Glasregalen zu sehen. Aber es ist nicht die Originalware, der Schokoriegel, die Wundertüte oder die Coladose mit ihrer verkaufsorientierten knallbunten Warenästhetik: Wie verwandelt geben sich die Kioskprodukte als Skulpturen, nachdem sie vom Künstler mit gebleichtem Bienenwachs überarbeitet wurden.
Ein Blick in die Kunstgeschichte läßt zumindest schlaglichtartig zwei Künstlernamen an dieser Stelle aufgreifen: Andy Warhol und Joseph Beuys. Mit Warhols Position in der amerikanischen Pop Art verband sich jener Ausspruch "all is pretty" und damit eine entscheidende Erweiterung des Kunstbegriffs um die Produkte der Warenwelt: Die Campbell Soup-Dosen und Brillo-Waschpulver-Boxen Warhols sind seither aus dem Museumskontext nicht mehr wegzudenken, ja sie sind lkonen der Kunstgeschichte der 60er Jahre, mit der die Kunstentwicklung noch einmal mit der Erweiterung ihres Horizonts einen gewaltigen Anschub bekam, der auf den Anfang des Jahrhunderts verwies, als Marcel Duchamp mit seinen Ready-Mades die Kritiker entsetzte, indem er Gebrauchsgegenstände wie Flaschentrockner oder Fahrradfelgen dem Alltag entnahm und auf den Museumssockel stellte.
Ein zweiter Bezug besonders für die Installation Kiosk stellt sich natürlich zu Joseph Beuys her, wobei auf die 1984 entstandene Installation Wirtschaftswerte verwiesen werden soll. Damals richtete Beuys in der Düsseldorfer Ausstellung Von hier aus in Holzregalen Hunderte von DDR-Waren aus, vom Mehlsack einer Brandenburger Landwirtschaftskooperative bis zur Karo-Zigarettenschachtel. Beuys vollzog damit - fünf Jahre vor dem Zusammenbruch des DDR-Staatssystems und seiner Wirtschaft - einen außerordentlich provokativen Akt gegen die schillernde Ästhetik der westlichen Warenwelt, indem er auf sinnliche Aspekte der DDR-Produkte und ihre realen Qualitäten verwies, die aber im sogenannten "real existierenden Sozialismus" nicht wahrgenommen werden konnten, da sie verblendet durch westliche Fernsehwerbung als bloßer Mangel verstanden wurden.
Die Kontraste von Mangel und Reichtum, Alltag und Kunst, Ware und Kunstwerk, Ewigkeit und Vergänglichkeit sind auch Polaritäten in der künstlerischen Arbeit Semjons. "Beuys geht es um die Vergänglichkeit, mir geht es um die Ewigkeit", formulierte Semjon in einem Gespräch.
Dieser Verfremdungseffekt des Vertrauten, seine Bewahrung vor dem Verfall, bezieht Semjon nicht nur auf die im Kiosk ausgestellten Waren in ihrer künstlerischen Transformation, sondern auch auf das Gesamtensemble des Gebäudes. Es geht ihm mit diesem Kunstgriff um die Irritation der alltäglichen Wahrnehmung und letztlich um die Stimulanz der Erinnerung an etwas, das erhaltenswert ist wie eben dieser Kiosk mit seiner bewegten Geschichte (Verwahrlosung, drohender Abriß, Unter-Denkmalschutz-Stellung, Wiederherstellung, Neuorientierung als Kommunikations- und Repräsentationsort für das bezirkliche Kulturleben). "Denn wir nehmen meistens erst dann etwas wahr, wenn es im Verschwinden begriffen ist", so der Künstler, und damit steht der Kiosk nicht mehr nur für sich selbst, sondern gewissermaßen als Synonym für unseren Umgang mit Geschichte, Kunst und Kultur, die in diesen Zeiten in der Tat vor dem Verschwinden bewahrt werden müssen.
Semjon plant, der 1996 temporären, nunmehr ortslosen Kiosk-Installation eine feste Heimstätte zu verschaffen. Er hat einen mobilen Kioskpavillon entworfen, der auf Rädern aufgesattelt, als Repräsentant und Rohmodell für das Kioskwesen an sich verstanden werden soll.
Eine weitere Dimension erfährt die Werkgruppe der Product Sculptures in der Begehbarkeit und interaktiven und intermedialen Kommunizierbarkeit in seinem für New York geplanten Deli/Grocery Project 2000. Ein typischer New Yorker Deli/ Grocery-Laden mit ca. 1000 Skulpturen soll inmitten einer lebendigen Geschäfts- und Wohnstraße in Downtown Manhattan inszeniert werden.
Semjons künstlerischer Anspruch und Qualität liegt nicht nur in dem Moment der Product Sculpture an sich als sensiblem, differenziertem und ästhetischem Kunstwerk, sondern in seinem erweiterten Wirkungsrahmen wie der kontextuellen Installation und in dem Moment der projekthaften medialen Kommunizierbarkeit.